Sonntag, 12. Juli 2015

Schlafanzug nach Hamburg




 

Schlafanzug nach Hamburg


…Und einen Kaffee mit Milch bitte. Ich klemme mir meine Reiselektüre, das aktuelle Titanic-Magazin unter den rechten Arm, meine linke Hand ist die Rollkofferbeauftragte. Der Auftrag der rechten Hand besteht darin, den Becher Kaffee möglichst schwappfrei zum Gleis zu  transportieren.

Ich positioniere mich vor der Fahrstuhltür. Der Fahrstuhl ist die allerneueste Errungenschaft, auf die der hübsche alte Bahnhof in der lebendigen Kreisstadt Itzehoe Jahrzehnte warten musste. Es geht ein Stockwerk runter, aussteigen, auf die gegenüberliegende Seite des Ganges wechseln, dort den abermals den Aufzug besteigen und das Stockwerk wieder rauf.
„Tür öffnet automatisch! belehrt eine freundliche Computerstimme und entlässt mich auf den Bahnsteig am Gleis 4, Richtung Hamburg. Kurzer Check: Ellenbogenandruck hält Magazin, Hand balanciert Schritterschütterung zuverlässig aus und ohne einen  Tropfen Kaffee verschüttet zu haben, beobachte ich, wie in der  Ferne der Zug auf die Zielgerade Richtung Bahnhof einbiegt und dröhnend, ratternd und von Zischgeräuschen begleitet zum Stehen kommt.
Eine weitere Computerstimme vermeldet die planmäßige Ankunft und Weiterfahrt des Zuges.  Es ist aber nicht die Stimme aus dem Fahrstuhl, sondern eine Computerstimmenkollegin, die ich auch schon vom Berliner Hauptbahnhof kenne. Weiterfahrt über ELMshorn“, betont die Stimme mal wieder völlig falsch und routinemäßig amüsiere ich mich ein wenig. Die korrekte Betonung liegt natürlich auf „horn.
So, aber jetzt erstmal einsteigen und einen guten Platz ergattern, auf den Kaffeebecher aufpassen, nicht kleckern. Nanu…? diesmal kein Großraumabteil sondern nur Kabinen?! Na macht nichts.  Ich entdecke ein komplett leeres Abteil und mache es mir auf dem Premiumplatz am Fenster in Fahrtrichtung gemütlich, da fährt der Zug auch schon ab, ratternd, pfeifend, Tempo aufnehmend. Meine Reisezeit beträgt nur 37 Minuten, also mache ich mich umgehend übers Reiseproviant her, 4 leckere  Duplos. Süßigkeiten dieser Kalorienklasse und in vierfacher Ausführung sind natürlich ausschließlich auf Zugreisen erlaubt. Die Einverleibung erfolgt systematisch, um den Genussfaktor der einzelnen Geschmacksmomente zu erhalten. Erst werden die seitlichen Ränder vorsichtig abgeknabbert, danach der gewölbte obere Schokodeckel und zum Schluss waffelartigen Boden pur genossen. Diese Art und Weise des 3-Phasen-Verzehrs habe ich im Alter zwischen ca. 5- 8 Jahren entwickelt und praktiziere sie teilweise  heute noch, wenn keiner zuguckt.
Mein Blick fällt aus dem Fenster, die Landschaft zieht in einem schnellen Bildwechseln an mir vorbei.  Die Sonne blinkt durch Bäume und taucht das kleine Abteil in ein romantisches und lebendiges Licht. Der Zug hat jetzt richtig Fahrt aufgenommen und saust durch den warmen Sommernachmittag. Im Zeitraffer wechseln Wiesen, Bäume, Häuser… Rehe!!.... Ein Hase! … Und noch einer!.. Und Störche!!! Meine Güte Störche und gleich so viele, das sind mindestens 5 Stück!!! Ich zücke mein Smartphone und verfasse einige Prahl-SMS. 5 Störche, mehrere Rehe und 2 Hasen, das ist rekordverdächtig, das muss erstmal einer nachmachen.
Nun scheint mir die Zeit gekommen für ein wenig ernsthafte und anspruchsvolle Lektüre, die Reisezeit ist kurz; ich blättere die „Titanic“ auf und starte wie immer mit meiner Lieblingskolumne auf Seite 63. Oder doch lieber erstmal etwas Entspannendes? Ich klappe die Titanic wieder zu, alternativ habe ich auch noch die aktuelle Ausgabe der „JOY“ dabei. Aha, die Farben des Sommers, interessant… Cocktail- Rezepte… oh ja,  das klingt alles lecker und erfrischend, ein paar Rezepte davon werde ich unbedingt probieren!
Mein Blick fällt aus dem Fenster. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe und genieße die beruhigenden Geräusche und Landschaftsbilder…
Dann rumpelt es plötzlich neben mir. Leider doch kein Abteil für mich allein. Die durchsichtige Tür wird von einer hellen Nase vorsichtig aufgedrückt und ein Schaf schiebt sich durch die Tür ins Innere der Kabine. Das ist nicht weiter überraschend, denn der Zug durchquert gerade ländliches Gebiet. Allerdings nimmt das Schaf jetzt fast den kompletten Raum zwischen den Sitzplätzen ein  und ich weiß nicht mehr so recht, wohin mit meinen Füßen. Doch da macht es  einen Hüpfer, eine Art Bocksprung und landet mit den Vorderfüßen auf dem Sitz gegenüber. Anschließend schaut es aus dem Fenster und ich tue so, als täte ich das auch. Ob ich das Schaf ansprechen sollte…? Eine kleine Unterhaltung wäre doch vielleicht ganz nett. Aber wie ansprechen? Mähen? Überhaupt, wie nennt sich eigentlich Schafsprache, Blöken wahrscheinlich, mal nach sehen, was Wikipedia dazu weiß. Also Schaf, das Hausschaf…Es könnte eine  Moorschnucke sein, nach den Bildern zu urteilen, aber wie sieht es aus mit der Sprache… Aha, da bin ich jetzt aber wirklich  superschnell fündig geworden. Ein umfangreicher Onlinesprachführer Deutsch/ Schäfisch, Schäfisch/ Deutsch steht zur Verfügung, tolles Internet!  Gleich mal nachschlagen, was zum Beispiel:  „Hallo, und wohin geht die Reise?“ heißt.… Oh, nein, das liest sich leider völlig unaussprechbar und wie ein anspruchsvoller Zungenbrecher, das bringe ich garantiert nicht raus. Vielleicht erstmal nur „Hallo“….
Jo, das glaube ich, könnte ich hinbekommen. Ich übe kurz lautlos ein, dann wage ich mich an die Aussprache. „Ähm“, setze ich an. Das Schaf guckt weiter aus dem Fenster und verzieht keine Miene. Ich räuspere  mich auffällig. Sehr gut, das Schaf blickt jetzt zu mir rüber, ich setzte an: Määääh!
Tja, die Antwort fällt dann doch verständlicher aus, als ich gedacht hatte:
„Die Fahrkarte bitte…“






Text/Bilder: Anja Barbas